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Fotodelere

Fotodelere - Achtlos weggeworfene Fotografien

Archäologen er-finden aus Spuren ein Leben aufs Neue. Daher sehe ich mich nicht als Fotograf - eher als Fotoarchäologe oder Fotogeologe.
Ich grabe mich intervallweise durch einst sorgfältig gehütete Schätze aus Pappbildchen und Farbdiafilmen. Aufbewahrt als visuelles Familiengedächtnis, weggeworfen, verkauft oder vergessen, als Gegenstand verschiedener Erinnerungsentrümpelungen. Der Fundus beträgt derzeit ca. 40.000 Fototräger, von nie entwickelten Filmdosen über Kabinettfotos und Dias, bis hin zu Farbabzügen.
Ein neuer Fund wird analysiert: Aus ihrer unsortierten Masse heraus brennen sich im Sekundentakt fremde Geschichtsfragmente in unser Gehirn, das eifrig nach Zusammenhängen sucht. So wie die eigene Erinnerung ständig neu generiert und immer wieder verfälscht wird, werden die Bilder zu scheinbar bekannten Existenzteppichen verwebt. Hier setzt die Fotodelere ein. Durch kombinieren, reduzieren, herausschaben und übermalen werden Bildelemente verändert und neue Geschichten erzählt. Die abgebildeten Figuren werden zu wandelbaren Platzhaltern, die sich mit Emotionen und Erfahrungen des Betrachters aufladen. Die Zeitkomponente löst sich auf und ist zugleich Rückblick, Ansicht wie auch Aussicht.
Die Rahmungen erscheinen als traurige Referenz an konservierende Wertschätzungskonzepte der bürgerlichen Tradition.



Fotodelere 2006 -2010



Fotodelere 2011 -2014



Fotodelere 2015 -2020



Fotodelere - Adcutage




Fotodelere - Diapulation




Text zur Ausstellung "Stories" im Kunsthaus Viernheim

Eröffnungsrede von Marko Schacher

„Beklemmend" ist vielleicht die adäquateste Bezeichnung für die Wirkung, die Steffen Osvaths Exponate auf Erstbetrachter haben. Nicht alle Tage werden wir in einer Ausstellung von einem aufgebahrten Sarg empfangen. Und sehr selten werden wir motiviert, in einen Sarg hineinzugreifen, um etwas heraus zu holen. Heute schon! Die Kunst darf das! Die Kunst darf und soll uns provozieren, uns an- und aufregen, möglicherweise auch deprimieren, und unsere Köpfe aus dem „Stand by“-Bereich holen und die „Play“-Taste drücken, auch wenn der Film, der daraufhin vor unserem geistigen Auge abläuft keine Jugendfreigabe bekommt. „Kommen Sie näher, greifen Sie zu, Landschaften, Strände, Berge, Familien-, Doppel-, Einzelportraits und Stillleben, heute kostenlos, aber jeder bitte nur ein Dia!“

Steffen Osvath konfrontiert uns mit dem Tod! Nicht zuletzt mit dem Tod von 5.000 gerahmten Dias! Die befinden sich im Innern eines offenbar selbst nur knapp dem Krematorium entronnenen, schwarz angefackelten Sargs. Dieser dient quasi als Los-Trommel des Lebens bzw. des Todes. Wer hineingreift, kommt mit einem Einzelschicksal in den Händen wieder heraus. Ich habe eine Gruppen-Aufnahme erwischt: Vater, Mutter, Sohn, alle breit lächelnd vor und neben einem spektakulär unspektakulären Riesen-Busch, wohl aus den 1970er Jahren.Und nun? Wie gehen wir mit dieser Kreuzung verschiedener Lebenswelten um? Lassen wir uns emotional berühren? Denken wir uns eine Geschichte zum Bild aus (passend zum Ausstellungstitel „Stories“)? Stecken wir das Dia wieder rein? Tauschen wir es gegen eine vermeintlich bessere Aufnahme aus? Das Dia wegwerfen? Mitnehmen? Zu Hause als Kunst rahmen? Vom Künstler unterschreiben lassen? Irgendjemand hat all diese gerahmten Erinnerungen offenbar ja bereits mindestens einmal weggeworfen und entsorgt. Dürfen/sollen/müssen wir das wieder tun?

Ein Großteil der als Ausgangspunkt für seine Werke dienenden Dias und Fotos hat Steffen Osvath tatsächlich vor einigen Jahren auf dem Recyclinghof vor dem Flammentod gerettet oder als Massenware auf dem Flohmarkt erstanden. Inzwischen stellen ihm Freunde oder Unbekannte aber auch ungefragt ganze Foto- und Dia-Sammlungen vor die Tür oder bieten ihm diese zum künstlerischen Recycling an– vor, während und nach Ausstellungen.

Vom Sarg erstreckt sich ein roter Teppich zu einer auf dem Boden abgestellten, gerahmten Fotografie, die halb von einem Tuch verdeckt ist. Vielleicht ist es passender zu sagen: Der Teppich erstreckt sich von diesem abgehängten Bild zum Sarg. Der Weg vom Leben zum Tod ist kurz, in diesem Fall sind es keine zehn Meter. Der Rahmen des Fotos glänzt prunkvoll, die darauf dargestellte Dame weniger. Der scheinbar freudige Sprung am Meeres-Strand wirkt durch die künstlich gestrafften Brüste und das im Gegensatz dazu faltenreiche Fratzen-Gesicht sehr unerotisch und so gar nicht fröhlich. Nicht nur hier entlarvt Steffen Osvath die vermeintliche Idylle als gestellt und inszeniert.

Da mögen die neun, hinter Glas und Passepartouts schwarz gerahmten Bilder noch so brav und akkurat gehängt sein, sie verstören mehr, als sie dokumentieren. Offenbar hat der Künstler die gefundenen Foto-Negative mit Ritzwerkzeugen und Säuren bearbeitet, so die Familien-Geschichte bzw -Geschichten ausradiert und so neue, düstere, irgendwie aber auch poetische und sinnliche Bilder geschaffen.

Osvath entlarvt mit seinen Fotobearbeitungen die Inszeniertheit der vermeintlichen Glücksmomente. Statt Familienidyllen erblicken wir überall weg gekratzte Köpfe, fratzenhaft verzerrte Mienen, anonymisierte Gesichter und sich auflösende Körper. Es sind anonyme Aufnahmen, inszenierte Gruppenportraits von Unbekannten, deren Lebensgeschichte anhand der Fotofragmente nicht mehr rekonstruiert werden kann, in die sich der Künstler aber einmischt, indem er analog und digital addiert, subtrahiert, konstruiert, kombiniert und buchstäblich seine Spuren hinterlässt.

Keine Frage: In unserem heutigen digitalen Zeitalter passen all die hier präsentierten Dias und Fotos auf einen einzigen USB-Stick. Ginge es nur um die Fotos könnten wir alle Exponate bequem in der Hosentasche mit nach Hause tragen. Dass wir sie unbequem im Kopf mit nach Hause nehmen, ist einer der Verdienste von Steffen Osvath. Er konfrontiert uns körperlich, emotional, haptisch, analog und real mit Hunderten von Einzelschicksalen.

Bei all dem vermeintlichen Chaos der Präsentation ist und bleibt der Künstler konsequent: Selbst die benutzen Rahmen, der hier ausliegende rote Teppich, und die graue Wandfarbe, die zum Einsatz kam, sind Fundstücke. Zufälle, zum Beispiel Sprünge in der Verglasung, werden selbstverständlich Bestandteil des Exponats und erweitern so die verschiedenen Zufallsketten, die vom Auffinden der Fotos oder Dias bis zur Präsentation führen.

Abhängig von unserer eigenen momentanen Stimmung und unserer individuellen Biografie werden wir den Ausstellungsbesuch unterschiedlich empfinden und verarbeiten. Was uns sicherlich zu schaffen macht, ist die Ambivalenz, die Uneindeutigkeit der Exponate. Handelt es sich im Bild um ein sich liebendes Ehepaar oder um eine Krankenschwester, die ihren Patienten erwürgen möchte? Ein vermeintlicher Jäger, der ein dreiäugiges Küken (übrigens in diesem Fall ein „reales“ dreiäugiges Küken) in den Händen hält, könnte im nächsten Moment selbst zum Gejagten werden. Wir kennen den Grund für manche Menschen-Ansammlung nicht, wollen ihn oft aber auch gar nicht so genau erfahren. Ersäuft die Dame das Baby in der Waschschüssel oder säubert sie es liebevoll? Lacht die Braut, oder heult sie? Ob es sich bei den Konterfeis der im letzten Raum gezeigten und mit der Projektion eines kopflosen Soldaten kombinierten Personen um Darstellungen des gekreuzigten Jesus, Helden der Feuerwehr oder gesuchte Massenmörder handelt,ist im wahrsten Sinne des Wortes unklar. Auf dem Boden verteilte Boccia-Kugeln weichen riesigen Fischen, Familienfeste und Kriegschauplätze, akrobatischer Seiltanzakt und Apokalypse begegnen sich auf der gleichen Ebene.

Analoge und digitale Bearbeitungen verschmelzen, genauso wie Krieg und Erotik, Spießrutenlauf und Spaß, Geisterbahn und Ahnengalerie, Horror und Romantik, H.R.Giger und Casper David Friedrich, David Lynch und William Turner – die hier aufeinander prallen und sich zum narrativen, poetischen Konglomerat vereinen.

Eine oberflächliche, emotionslose Rezeption der Ausstellung ist unmöglich. Es scheint so, als würden sich die einzelnen Exponate zu einer Gesamtinstallation verbinden, die uns ein lautes „Memento Mori/ Gedenke des Todes“ entgegen flüstert, an mancher Stelle auch entgegen schreit. Die sich zur Rauminstallation vereinenden Werke gemahnen uns an die Vergänglichkeit und die Unwichtigkeit des Einzelnen.  Die Ausstellung macht einem Angst, härtet aber auch ab und verströmt trotz allem eine romantische Poesie.

Am Ausgang oder an der Treppe zum Obergeschoss ist man froh, der Ausstellung zu entkommen. Man ist aber auch froh, sie gesehen zu haben. Mir jedenfalls ging und geht es so.

Achja: Ich habe mein Dia übrigens aufgehoben.



Text zur Ausstellung "Szenenapplaus" in der Uni Hohenheim

Eröffnungsrede von Prof. Wolhart Hähnel

„Vor Ort“ zu stehen – am Ort der bearbeiteten, düsteren und ziergerahmten Bilder von Steffen Osvath zu stehen ist ein zunächst schwer ertragbares Erlebnis. Denn Bild für Bild scheint sich der Betrachter in einem Tiefseetauchboot zu befinden, scheint er Knirschgeräusche seines am felsigen Grund entlang schrammenden Kiels zu hören. Das erfordert Aufnahmebereitschaft und Kraft – eine Anstrengung, die sich lohnen könnte.

Nicht jedem ist es problemlos möglich, sich einzufinden in die Kulturleistung der kollektiv vollzogenen Umdeutung und Übermalung des Menschgegebenen Urgrauens hin zu einem blauen Segeltörn.

Osvath jobbt in Recyclinghöfen. Auch aufgerissene Fotoschachteln mit Bildern abgeschlossener Lebensläufe gleiten am Fließband vorbei: Abgelichtete Personen einer Geburtstagsfeier, eines Urlaubs im Schwarzwald, stehend auf einem Bootssteg, lehnend an einem Brückengeländer, mit Zuckertüte, im Karnevalkostüm, ein betagtes Ehepaar am Abendtisch gegenüber sitzend, zeitunglesend – man kennt das: Ihres Bezugs entrissene, wahllos gewordene Fotos haben ihre Distanz schaffende Vertrautheit verloren; das bedeutet: Weil die personale Wiedererkennung ausbleibt, wird unvermittelt die allgemeine Nacktheit des einzelnen Seins erkannt. Auf „direktem Umweg“ sieht sich der Betrachter jetzt jäh gespiegelt, indes auf transpersonaler Ebene. Unter solcher Neuvertrautheit ringt er jetzt um seine Identität. Tief am Grunde schrammt der Kiel. Das ist die Unbehaglichkeit, auch Unerträglichkeit, die sich vor den Bildern von Osvath einstellt.

Die den Großdrucken zu Grunde liegenden, ausgewählten Fotos werden zuvor bearbeitet. Das geschieht zum Teil intensiv, spontan und „aus dem Bauch heraus“. Sie sind dann „schön“, wie Osvath kurzbündig erklärt. In der Tat, es mag einem nicht selten vorkommen, dass er dieser oder jener, spontan oder in Pose, abgelichteten Person Würde gibt. Nicht eine vor(an)gestellte Würde wäre es, sondern jene, die sich einstellt, wenn selbst das Groteskein der Bedingtheit des Menschen angenommen und herausgearbeitet wird.

Wenn Osvath seine Bilder schön nennt, dann resultiert das Schöne aus der Wahrheit. Das ist nun ein ursprüngliches Anliegen der Kunst. Ihm stellt sich Steffen Osvath. Die ihm eigene Sprache zielt in bester Tradition aufs Ganze.